Klaus Liebig in seinem Atelier in München Pullach 1977

Armin Zweite über Klaus Liebig im Ausstellungskatalog Let's mix all feelings together – Baruchello, Erró, Fahlström, Liebig  1976 und 1977 Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München, Frankfurter Kunstverein, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Louisiana Museum, Humlebeak/Kopenhagen

 

Ähnlich wie Erró sammelt Liebig Reproduktionen und Texte, klas­sifiziert dieses Material und ordnet es zu einer privaten Enzyklopä­die, die ihm motivische und formale Anregungen für seine Bilder lie­fert. Während Erró vor allem Abbildungen aus Werbung und Trivialkunst verarbeitet, greift Liebig in seinen Kompositionen häu­fig Themen aus Literatur, Ethnographie, Psychologie, Mythologie, Anthropologie u.s.w. auf. Variationen von Werken der bildenden Kunst spielen darüber hinaus ebenso eine Rolle wie direkte oder in­direkte Hinweise auf Karten- und Brettspiele. Häufig sind dabei nur Allusionen auf bestimmte Bücher, Kunstwerke, Zeichen und Stile in Liebigs Darstellungen eingegangen, so dass beim Betrachter ein hohes Maß an Wissen und eine ausgeprägte Assoziationsfähigkeit vorausgesetzt wird. In dieser Hinsicht sind die Darstellungen Liebigs und Baruchellos miteinander verwandt, während sie inhaltlich und formal inkompatibel bleiben.

 

Auffällig ist außerdem, welches Gewicht der Landschaft in Liebigs Arbeiten zukommt. Seen und Flüsse, Wiesen und Wälder, Hügel und Täler bestimmen fast aus­schließlich die Bildgründe, formieren sich jedoch nicht zu einem räumlichen Kontinuum. Ständig wechselnde Perspektiven ver­schleiern nämlich das Prinzip kompositioneller Verkettung der De­tails ebenso wie die partielle Identität von Figur und Grund. Er­reicht wird diese Verschränkung durch teilweise Eliminierung der Konturen und durch Verwendung derselben Farbe für benachbarte Elemente. So gehen in dem Bild Der Abschied von 1974 Figuren, Architektur, Landzunge und Ruderboot ineinander über.

 

Im Ge­gensatz zu den anderen Künstlern dieser Ausstellung ist bei Liebig das narrative Moment vorherrschend. Unverkennbar wird dabei häufig eine, die Motivauswahl bedingende Erzählung auf verschie­denen Ebenen vorangetrieben, so dass Gegenwärtiges und Vergan­genes, Wirkliches und Erträumtes, Bewusstes und Unbewusstes gleichzeitig aktualisiert erscheinen. Die Inszenierung des Bildge­schehens basiert daher auf einer ausgeklügelten Strategie, die einer­seits sowohl an die Struktur innerer Monologe bei Joyce, als auch an die phantastische Erzählweise von Lewis Caroll erinnert, anderer­seits aber auf einer Spieltheorie beruht, die dem Zufall und damit der Phantasie des Betrachters sehr viel Spielraum lässt.

 

Es ist daher kon­sequent, wenn Liebig ähnlich wie Fahlström variable Bilder herstellt (G vs L, Konsonanten) Die Collage In den Dünen von 1969 lässt die angedeuteten Arbeitsprinzipien erkennen. Aufnahmen von Dünen und Meer sind auf Teile von Meßtischblättern projiziert, die wiederum mit der Feder ergänzt wurden. Genaue Wiedergabe von Realität (Foto), deren kartographische Repräsentation (Meßtisch­blatt) und freie Weiterführung dieser Darstellungsweise (Zeich­nung) stehen ein für verschiedene, einander ergänzende Möglichkeiten, die Wirklichkeit wiederzugeben. Die Parzellierung der Bild­fläche ermöglicht es, jedes Teilstück für sich auf die im Foto festge­haltenen Frauen in der unteren Bildzone zu beziehen. Dieser pa­rataktische Aufbau charakterisiert auch die anderen Arbeiten und manifestiert sich u. a. in dem ebenfalls 1969 datierten Gemälde Dampfzüge, zu dem Liebig folgendes notierte:

 

„Das Bild parodiert formal ein Triptychon. Durchgehend ver­wandt sind die Typen der schweizerischen Dampflokomotiven, die Brechungen, Verschiebungen, Spiegelungen bei einer Eisenbahn­fahrt (natürliches Vorkommen einer kubistischen, futuristischen Welt, dort aber praktisch nicht benutzt), durchgehend ist auch eine biographische Struktur, die als parodistischer Gang durch die abend­ländische und ethnographische Kunst – durch ihre wichtigsten The­men, z. B. „die vier Jahreszeiten“, das „Selbstporträt“ – wiedergegeben wird. Der linke Flügel enthält die Jugend, das Glück, die Frühformen von Kulturen; der mittlere das Erwachsensein, die Verformungen, die Gegensätzlichkeiten; der rechte das Altern, das Unglück, westfä­lischen Aberglauben. Während der linke Flügel zusätzlich durch gestaffelte, nach oben schräger werdende (Para-)Parallelperspekti­ven gegliedert ist, ist es der mittlere durch (Para-)Zentralperspekti­ven, der rechte durch (Para-)Perspektiven, deren Fluchtpunkt außer­halb des Bildes liegt. Die perspektivischen Linien lassen sich auch als Geschwindigkeiten lesen. Die Zusammensetzung rot/grün (links), blau/orange (Mitte), gelb/violett (rechts) zeigt bei wechselnder Ent­fernung des Betrachters die Zusammensetzbarkeit und/oder den Zerfall der Farben des Bildes."

 

Studie G vs L geht ebenfalls von einem orthogonalen Linien­gerüst aus, das die Bildfläche in 48 gleiche Felder teilt. Von diesen sind jeweils 12 bestimmten Themen zugeordnet. Während oben links Kinderspiele, Theater, formale Logik und Zahlenmystik para­phrasiert werden, finden sich rechts oben Hinweise auf Lewis Caroll, Fotografie, Schach, Allegorie und Heraldik. In die unteren Viertel arbeitete Liebig Anspielungen auf Psychologie, Darwinismus, Ge­nesis, Objekte früher abendländischer Kulturen und asiatische Spielkarten ein, oder repräsentierte in Ausschnitten Schamanismus, Seelenwanderung, Geschichte und Malerei der Mongolen sowie Geschichte der Fahrzeuge. Darüber hinaus beziehen sich die ver­schiedenen Komplexe auf Tarotkarten, so dass die Arbeit ein enzy­klopädisches Gedankengebäude darstellt. Alle Elemente sind dabei so eng miteinander verwoben, dass sich der Eindruck eines orna­mentalen Rapports einstellt. Nicht zuletzt der Wunsch, den Bezugs­rahmen noch zusätzlich zu erweitern und das Variationsspektrum zu vergrößern, mag dazu geführt haben, die Ausarbeitung des Bildes ab­zubrechen und statt dessen ein variables Bild gleichen Themas zu schaffen. Dessen ca. 100 bewegliche Teile potenzieren die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten, wobei freilich die Veränderungen nicht wahllos vorgenommen werden können, sondern bestimmten Ein­schränkungen unterworfen sind. Ähnlich wie bei Fahlströms Arbei­ten dieser Gattung müssen formale, psychologische, bedeutungs­mäßige und kulturelle Zusammenhänge bewahrt bleiben, um ein sinnvolles Setzen der beweglichen Elemente zu ermöglichen. Tradi­tionelles Bildungsgut und okkulte Lehren verbindet Liebig mit autobiographischen Motiven zu Bildern, deren Problematik viel­leicht darin liegt, daß einerseits die Anspielung auf Privates nicht ob­jektivierbar und damit vermittelbar ist, andererseits die Totalität des gedanklichen Konzepts sich kaum visuell fassen lässt.

 

Bezeich­nenderweise haben daher Liebigs spätere Bilder einfachere Struktu­ren. Exemplarisch sei hier auf das Gemälde Frühe Liebe von 1971 verwiesen. Verschiedene Landschaften und Interieurs sind über- und ineinander geblendet. Die jeweils modifizierte Darstellungsweise deutet auf verschiedene Phasen der Vergegenwärtigung des Vergan­genen hin. Neben verblasste Vorstellungen treten Reminiszenzen an Gemälde von Monet und Corot. Die mehrfach wiederholte Figur eines Knaben ist nur in Umrissen gegeben. Konkrete Angaben zu Aussehen und Kleidung fehlen. Gestrichelte Linien nach Art der Schnittmusterbögen durchziehen die Komposition und verknüpfen die Kompartimente. Eher der Zustand wehmütigen Rückblickens ist erfasst als der konkrete Inhalt eines Kindheitserlebnisses. Die Karto­graphie der Erinnerung weist viele weiße Flecken auf. Ähnliches lässt sich an dem Bild In der Lagune von 1972 beobachten. Szenen aus dem Leben eines Mädchens wurden in eine idyllische Umgebung projiziert, die aus verschiedenen Teilansichten einer Lagune bei Aquilea gebildet ist. Hinzu kommen der Grundriss der Hütte, in der das Mädchen lebt, und das Diagramm ihrer täglichen Bewe­gungen vom Aufstehen bis zum Verlassen des Schlafraumes. Das Inventar ihrer Kleider wird ebenso festgehalten wie verschiedene Sequenzen aus einem Tagesablauf oder der Wechsel der Jahreszei­ten. Die das Gemälde vorbereitende Collage verdeutlicht Liebigs Verfahrensweise, da hier das Ausgangsmaterial konkret fassbar ist. Fo­tos und Karten sind im Bild in Malerei überführt. Dabei wurden direkte motivische Verweise auf den ursprünglichen Erlebnisraum am Lago di Bolsena vermieden, wo der Maler einige Zeit mit einer Fischerfamilie in einer Schilfhütte lebte.

 

Dieser Transformationsprozess lässt sich ebenfalls an dem Bild Die junge Droste von 1974 ablesen, wenn man eine Zeichnung von 1973 heranzieht. Das Westfälische Landschaft betitelte Blatt zeigt ein Industriegebiet mit Eisenbrücken, Fördertürmen, Fabrik­schornsteinen, Kohlehalden in einer agrarisch genutzten Umge­bung. In diesem Ambiente ist an mehreren Stellen ein Mädchen in einer Weise wiedergegeben, dass dessen Verbundenheit mit dieser Region zugleich freiwillig und zwanghaft erscheint. Bezeichnenderweise kehren in dem Gemälde verschiedene Motive nicht wieder. Brücken und Flugzeuge fehlen, statt des Förderturms nimmt ein Baum das Zentrum ein, die Halden sind grünbewachsen. Die Land­schaft bekommt auf diese Weise einen lieblichen Charakter. An­spielungen auf das Tarot erhöhen sie darüber hinaus ins Symboli­sche. Gerade ein derartiges Beispiel mag verdeutlichen, dass sich Liebig im Gegensatz zu Erró und Fahlström intensiver mit geistigen Traditionen auseinandersetzt und direkte Hinweise auf politische und gesellschaftliche Zustände vermeidet. Die bildnerische Reflexi­on über Leben und Werk der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff belegt diese Einstellung.

 

Gemälde wie Die Köchin, Insect oder Die Geigerin er­scheinen demgegenüber komplizierter in der Anlage, nicht zuletzt, weil eine Vielzahl von Figuren und Motiven miteinander in Bezie­hung treten. Die erzählerischen Zusammenhänge können daher teilweise nur noch vermittels einer Rekonstruktion ihrer Organisationsprinzipien einsehbar gemacht werden. Für eines der Bilder ist das in gewissen Grenzen möglich, sofern man die vorbereitende Ideenskizze mit heranzieht. Auf dieser ist die als Spielbereich fun­gierende Darstellungsebene in 16 quadratische Felder unterteilt und mit einem Diagramm aus Linien und Buchstaben versehen. Als Schlüssel zu den gleichsam choreographischen Angaben ist rechts die Bedeutung der Lettern aufgeführt. ,,V“ steht demnach für einen Jüngling, der zum alten Mann „K“ wird, während „X“ und „L“ zwei Schwestern bezeichnen. Ein Register ihrer Eigenschaften, Vorstel­lungen und Verhaltensweisen schließt sich an. Als Umgebung soll ein Gemisch aus französischen und englischen Parklandschaften fungieren. Festgelegt sind ferner Jahreszeit (Herbst) und Lichtverhält­nisse. Der hypothetische Charakter dieses Szenariums zeigt sich an den Formulierungen im Konjunktiv („Gegeben sei.“) Dergestalt wird für Liebig das theoretische Kalkül zur Grundlage für die bild­nerische Umsetzung. Insgesamt prägt diese artistische Kombinato­rik die Arbeiten dieses Künstlers nachhaltig. Die Affinität zur Lite­ratur tritt bestimmend hervor, beeinträchtigt jedoch nicht die Wirksamkeit der Bilder und lässt sie nicht zu Illustrationen degene­rieren. Die Stilisierung ins Ornamentale, Zitate aus der Geschichte der Malerei und die gelegentlich zu beobachtende formale Nähe zum Jugendstil sowie das harmonische Kolorit sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich viele Motive ins Groteske verwandeln. In diesen Metamorphosen ist ein Moment des Grauens und des Schreckens bewahrt und in den ästhetischen Referenzen vielleicht auch eine nostalgische Komponente.

 

Das von Robbe-Grillet in L'Immortelle erörterte Problem der Wahl zwischen der Welt und dem Imaginären, zwischen Evasion und Romantik (Lucien Goldmann, Kultur in der Mediengesellschaft, Frankfurt 1973, Seite 80) betrifft auch Liebigs Arbeiten, wo­bei dieser augenscheinlich für das Imaginäre optiert. Seine Bilder er­weisen sich ebenso wie diejenigen Baruchellos als schwer assimilier­bar, da zumeist ein Code fehlt, der es dem Betrachter ermöglichen würde, sich den intellektuellen Gehalt der Werke zugänglich zu ma­chen. Die Problematik der Darstellungen Liebigs, aber auch die der anderen in diesem Zusammenhang erwähnten Künstler, lässt sich vielleicht in eine Frage kleiden, die Lucien Goldmann im Hinblick auf die Situation der avantgardistischen Literatur folgendermaßen formulierte: ,,Wie soll man eine Kunst begreiflich machen, deren Sprache sich immer mehr von der Ebene der unmittelbaren Wahr­nehmung entfernt, in einer Gesellschaft, wo derselbe Prozess, der die Schriftsteller verpflichtet, so zu sprechen, das Publikum daran hin­dert, sie zu verstehen und über das unmittelbar Wahrgenommene hinauszugelangen?" (Goldmann, a. a. 0. Seite 48)